Diagnose

Aufgrund der unterschiedlich bewerteten Ursachen und den vielfältigen, zum Teil auch gegensätzlich anmutenden Symptomatiken der ADHS, gestaltet sich die zuverlässige Diagnose als ein schwieriger und oft langwieriger Prozess :

„Die Auffassungsunterschiede darüber, ob die ADHS/HKS einfach zu diagnostizieren und zu behandeln ist, finden eine Erklärung auch darin, dass verschiedene Arztgruppen verschiedene Patienten sehen und eine Auseinandersetzung vor unterschiedlichem Erfahrungshintergrund führen. “Reine Störungen” und solche “leichterer Ausprägung” sind eher in kinderärztlichen Praxen zu beobachten, kompliziertere Störungen stärkerer Ausprägung gelangen früher oder später zum Kinderpsychiater. Leichte Probleme können aber, wie die Verlaufsforschung gezeigt hat, zu schweren, (…) Problemen werden. Und darum ist es sinnvoll, alle (…) genau anzuschauen.“
von Prof. Dr. Joest Martinius in Pädiatrische Praxis 59, S. 397-406 (2001) Hans Marseille Verlag GmbH München
vollständiger Artikel unter : www.paediatrica.de

Grundsätzlich ist eine ADHS-Diagnose Aufgabe eines Arztes oder eines Psychiaters ! Mögen die Symptome auch noch so auffällig oder „typisch“ erscheinen – „Diagnosen“ von Lehrern, Erziehern, von Ausbildern, „belesenen“ Freunden und Bekannten, etc. sind bestenfalls nur als Hinweis oder gut gemeinter Rat zu bewerten.
Auch eine „Selbstdiagnose“ auf Grund einer „Wiedererkennung“ in Büchern, Zeitungsartikeln, TV-Berichten, im Internet, in Selbsthilfegruppen, usw. kann die qualifizierte Diagnose durch einen Mediziner NICHT ersetzen !
Jedoch auch qualifizierten Ärzten oder Psychiatern ist es nicht möglich, ADHS innerhalb von 30 Minuten zu erkennen und eine entsprechend gesicherte Diagnose zu erstellen. Solche Diagnosen gelten mit Recht als unseriös und versorgen die ADHS-Kritiker nur mit neuen Argumenten, um gegen die Anerkennung der Störung und der Notwendigkeit diese sach- und fachgerecht zu behandeln, ins Feld zu ziehen.

Im Allgemeinen wird der Arzt zunächst – eventuell auch in Zusammenarbeit mit einem Psychologen oder Psychiater – mögliche andere Ursachen der ADHS-Symptome ausschließen.
In Frage kommen Störungen und / oder Erkrankungen in der Entwicklung des emotionalen Empfindens bzw. des Bewusstseins. Dazu zählen z.B. und unter Anderem das Borderline-Syndrom, bestimmte Formen von Psychosen und / oder Angststörungen, abnorme Persönlichkeitsentwicklungen, sowie Neurosen und Schizophrenien.
In Bezug auf das Borderline-Syndrom ergibt sich eine Besonderheit : Einige namhafte Mediziner und ADHS-Experten vetreten die These, dass eine im Kindesalter nicht erkannte und somit nicht behandelte ADHS (vor allem bei der hypoaktiven Form) unter Umständen eine Borderline-Symptomatik im Erwachsenenalter nach sich ziehen kann. In einer nicht unerheblichen Anzahl von Fällen kann das Borderline-Syndrom also als sogenannte Comorbidität der ADHS auftreten – der umgekehrte Fall ist natürlich ebenso möglich.
(vgl. Martin Winkler / Pierro Rossi  : “Borderline-Persönlichkeitsstörung und Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung bei Erwachsenen” Januar 2001


Die weitere, sogenannte Differential-Diagnose sollte Erkrankungen der Schilddrüse, bestimmte Formen der Epilepsie, Tumore, sowie Nebenwirkungen und Missbrauch bestimmter Medikamente bzw. Drogen (z.B. Kokain-, Cannabis, Alkohol) ausschließen. Solche Erkrankungen können ebenfalls bestimmte ADHS-Symptome hervorrufen oder – falls schon vorhanden – diese überlagern und verschleiern. Andere, hormonell bedingte Erkrankungen, welche in das neurologisch-chemische System eingreifen, sind zwar eher selten, dürfen bei der Abklärung einer ADHS aber nicht außer Acht gelassen werden. Ist das „Ausschlußverfahren“ abgeschlossen und lassen sich keine anderen und / oder besseren Erklärungen für die Symptome und das Leiden des Patienten finden, kann die Diagnostik in Richtung ADHS weitergeführt werden.

Hierzu bedient sich der Arzt dann i.d.R. einer sehr ausführlichen Anamnese (=Krankengeschichte), die folgende, wichtige Bereiche mit einschließt :
Komplikationen während der Schwangerschaft bzw. der Geburt des Patienten, Erkrankungen und Auffälligkeiten im Kindes- bzw. Jugendalter, die häusliche bzw. familiäre / partnerschaftliche Situation, das soziale Umfeld, die schulische / berufliche Situation, usw.
Der Arzt wird fragen, ob eventuell weitere Mitglieder der Verwandtschaft an psychischen Krankheiten oder an ADHS erkrankt sind und wann und in welchen Situationen die Symptome besonders deutlich auftreten. Viele Ärzte wenden sich an einen mitarbeitenden Psychologen, um z.B. mit Hilfe diverser Konzentrations- und Aufmerksamkeits-Tests oder eines sog. „Stress-Toleranz-Tests“ und weiterer psychologischer Untersuchungen ein detaillierteres Bild über die spezifischen Symptome des Betroffenen zu erhalten. Bei Kindern bzw. Jugendlichen mit einem Verdacht auf ADHS, hat sich die heimliche Beobachtung mit einer Videokamera sehr bewährt, um das Verhalten des Betroffenen in bestimmten Situationen besser beschreiben und beurteilen zu können.

Ein wichtiges Hilfsmittel bei der Diagnose der ADHS können Zeugnisse und Beurteilungen aus der Schule bzw. dem Arbeitsleben darstellen. Vor allem die Bemerkungen in Bezug auf das Arbeits- und Sozialverhalten oder rasche Leistungswechsel innerhalb eines Schulhalbjahres können als Indiz für eine ADHS gelten. Die vom Patienten selbst verfasste Biographie – natürlich nur bei älteren Jugendlichen oder Erwachsenen – kann dem Arzt ebenfalls wichtige Hinweise liefern. Eine Reihe von standardisierten Fragebögen ermöglicht es dem Arzt, den Patienten aus Sicht anderer Personen zu beurteilen. Die Fragebögen sollten neben den Eltern oder Lebenspartnern, ggf. auch von Lehrern, Mitschülern, Freunden oder Bekannten ausgefüllt werden.


Der Einsatz von „bildgebenden Verfahren“ (Computertomographien, SPECT-Aufnahmen, PETs, MRTs etc.) zur Diagnose der ADHS erfolgt i.d.R. nur extrem selten. Die notwendigen Geräte und Apparate sind sehr teuer und die Verfahren sind für die Patienten aufwendig und belastend.

Auch lassen die Interpretationen des bisher hauptsächlich nur aus Forschungsstudien vorliegenden Bildmaterials noch keine zweifelsfreie Diagnose auf ADHS zu.
Dennoch stellen die modernen Verfahren zur Bildgebung einen erheblichen Fortschritt bei der Erforschung des menschlichen Gehirns und seiner Funktionsweise dar. Somit bleibt zu hoffen, dass künftig hierdurch eine objektive und verlässliche Diagnose der ADHS oder auch anderer “hirnfunktioneller” Krankheiten und Störungen möglicht wird.

Das hier gezeigte Bild stellt eine auf einem PET-Scan basierende Grafik des Gehirns eines ADHS-Patienten dar. Deutlich sind die aufgrund der ADHS beeiträchtigten Hirnareale zu erkennen. Weitere Aufnahmen im Zusammenhang mit einem sehr interessanten Bericht (in englischer Sprache) über die diesbezügliche ADHS-Forschung, findet man auf der Internetseite www.psychiatryonline.org.

Nach der Auswertung aller notwendigen Informationen, kann gemäß der Kriterien des DSM-IV bzw. des ICD 10, sowie auf Grundlage der Erfahrung und der Kompetenz des Arztes eine “gesicherte” ADHS-Diagnose abgegeben werden. Liegt eine ADHS vor, so wird der Arzt i.d.R. zusammen mit dem Patienten – bei Kindern natürlich mit dessen Eltern – einen auf die individuellen Beschwerden und Beeinträchtigungen zugeschnitten Behandlungs- und Therapieplan erarbeiten.
ADHS gilt nach heutigem Wissen – im Sinne einer Hirnstoffwechselstörung  – als nicht heilbar. Arzt und Therapeut, Patient und Angehörige können nur gemeinsam versuchen, die Auswirkungen der ADHS auf den Patienten und seine Umwelt positiv zu beeinflussen.
Nicht mehr – Aber auch nicht weniger !

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